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Story von Martin Bartholme: Fast konnte ich den Nazis dafür dankbar sein

VERLAG RENATE BRANDES IN ALTENRIET
Veröffentlicht von Renate Brandes in Vermischtes · Donnerstag 13 Feb 2025 · Lesezeit 3:15
Tags: JugendhilfeFußballGemeinsamkeit

FAST KONNTE ICH
DEN NAZIS DAFÜR
DANKBAR SEIN


Ich arbeite in einer Jugendhilfeeinrichtung mit ›verhaltensauffälligen‹ Kindern. Die Hälfte der Kinder unserer Gruppe hat einen Migrationshin-tergrund. Die Mädchen und Jungen kommen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, sind oftmals vom Schicksal gebeutelt und haben schon in frü-hen Jahren schlimme Ereignisse durchleben müs-sen. Sie geraten schnell in Konflikte miteinander, sind laut und aufbrausend, meist wild und schwer steuerbar.
Vor einigen Tagen gingen wir gemeinsam auf den öffentlichen Bolzplatz unseres Heimatortes. Ähnlich wie ich, lieben die Kinder das Kicken, es fällt ihnen aber unheimlich schwer, gemein-schaftlich zu spielen. Jeder möchte nur den Ball, jeder möchte nur ein Tor schießen, keiner kann verlieren. Fußball ist ein emotionaler Sport, für meine Kinder zu emotional. Spätestens nach fünf Minuten muss ich das Spiel unterbrechen - weil zwei sich streiten, ein Kind sich unfair behandelt fühlt oder gekränkt das Spielfeld verlässt. Sie treten nicht als Team auf, sondern als Einzel-kämpfer.

Als wir vor einigen Tagen nun beim Bolzplatz ankamen, war dieser übersät von Nazi-Stickern. Stumpfe Parolen wie ›Merkel muss weg‹, ›Islami-sierung? Nicht mit uns!‹, ›Unser Land – unsere Werte‹ oder ›Abschiebung statt Integration‹, wa-ren dort auf den Banden, am Gitter hinter dem Tor und sogar auf Latte und Pfosten zu lesen. Kleber der ›Identitären Bewegung‹ und der rech-ten Internet-Plattform ›merkel-muss-weg.xyz‹. Ohne groß nachzudenken ging ich zu einem der Exemplare und versuchte ihn abzureißen.
Ausgerechnet unser irakisches Mädchen, deren Eltern vor einigen Jahren nach Deutschland ge-flüchtet waren, um ihrer an Leukämie erkrank-ten Tochter eine bessere medizinische Versor-gung gewährleisten zu können, fragte mich: »Was ist das für ein Aufkleber?«
Ich entgegnete ihr kurz angebunden: »Das ist ein Nazi-Sticker.«
Auch die anderen Kinder wurden nun auf-merksam und verfolgten das Gespräch und mei-nen Versuch, den Kleber zu entfernen.
Sie hakte nach: »Was bedeutet das?«
Puh, was für eine schwierige Frage. Wie erklärt man so etwas einer 10-Jährigen?
Ich versuchte es mit einfachen Worten: »Diese Menschen möchten nicht, dass du und deine Familie hier leben dürfen, weil ihr nicht aus Deutschland kommt.«
Ein Junge mischte sich entgeistert in das Ge-spräch ein. »Wieso das denn?«
Diese Frage war noch komplizierter. Wie erläu-tert man einem Kind, dass es Menschen gibt, die seine Freundin und Gruppenkameradin als un-erwünscht ansehen?
Ich antwortete ihm: »Diese Leute haben etwas gegen Ausländer. Sie sind voller Hass auf alles Fremde und möchten nichts teilen.«
Nun blickte ich in wütende Gesichter. Empört und ohne lange zu diskutieren gingen sie zu den vielen anderen Stickern und begannen diese ab-zurubbeln. Die nächsten Minuten waren sie vol-ler Engagement und in kompletter Eintracht da-mit beschäftigt, die rechten Slogans zu beseitigen. Das Jüngste der Kinder borgte sich von mir sogar eine Euro-Münze, um besser rubbeln zu können, denn seine Fingernägel sind immer abgeknab-bert, manchmal hiervon sogar blutig…

Nach einer Weile konnten wir dann endlich mit dem Fußballspiel beginnen. Und sie traten als Team auf. Ganze fünfzehn Minuten, ohne Un-terbrechung. Absoluter Rekord. Diese wilden, aufbrausenden Kinder aus fünf Nationen pass-ten sich die Bälle zu, lobten einander für gelun-gene Spielsituationen und halfen sich gegenseitig auf die Beine, wenn einer auf dem Boden lag. Für kurze Zeit war etwas in ihren Köpfen geschehen. Eine stille Form des Protests. Manchmal ist es so einfach! Ich war unheimlich stolz auf meine Truppe. Fast konnte ich den Nazis dafür dank-bar sein…


fotocredits freepik




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