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Sport ist kein Mord!

VERLAG RENATE BRANDES IN ALTENRIET
Veröffentlicht von Renate Brandes in Belletristik · Dienstag 30 Jul 2024 ·  9:00
Tags: OlympiaSportReginaRothengastKurzgeschichte
Sandalen im WinterSport ist kein Mord – aber auch kein Zuckerschlecken


Was tun? sprach Zeus. Das ist eine gute Frage für viele Lebenslagen. Ob Göttervater Zeus in der griechischen Mythologie das jemals sagte und ob er überhaupt jemals was sagte, sei dahingestellt. Auf alle Fälle wird es ihm in einer Ballade von Schiller 1795 in den Mund gelegt. Das Sprichwort steht für absolute Ratlosigkeit.

     
Eine solche Ratlosigkeit packte uns in der Lebensphase, als die Kinder das Nest verlassen hatten. Ende mit »Vater, Mutter, Kind…« Los ging’s mit Mann und Frau, nur sich selbst verantwortlich. Okay, Mann und Frau waren wir vorher auch schon, aber nun wieder gefühlt ein Paar. Nicht mehr für die Familie sorgen zu müssen, ist natürlich einerseits eine Erleichterung, andererseits sollte die gewonnene freie Zeit sinnvoll ausgefüllt werden. Schwierig wird es, wenn Mann und Frau Wert darauf legen, diese Freizeit möglichst zusammen zu verbringen. Noch schwieriger wird es, wenn die Interessen des alten Neupaares nicht nur verschieden, sondern grundverschieden sind.
Mit zunehmendem Alter wird man gesundheitsbewusster. So war von Anfang an klar, dass die familiäre Neu-Situation den Weg in eine Sportkarriere ebnen sollte.

Zuerst einmal zog es mich aber in die Welt des Gesanges. Das Singen im Chor bereichert seitdem mein Leben immens und ich kann sogar dreistimmig zwitschern: laut, falsch und mit Begeisterung. Zum Sport hatte ich seit Kindestagen ein gestörtes Verhältnis. Regina und Sport waren wie Teufel und Weihwasser. Noch heute bekomme ich eine Panik­attacke und Schweißausbrüche, wenn ich an die Schulsportstunden denke. Ich kann nicht sagen, wie oft ich mir das Schienbein, links und rechts, angeschlagen habe, als ich versuchte, über den Kasten zu springen. Ein nasser Sack am Stufenbarren? Das war ich. Das Gelächter meiner Mitschülerinnen und Mitschüler gellt mir noch heute in den Ohren. Wie oft habe ich mir da gewünscht, der Turnhallenboden möge sich auftun und mich verschlingen.
 
Mein Gatte hat es zeitlebens geschafft, der Leibesertüchtigung in irgendeiner Form zu frönen. Sei es als jugendlicher Fußballspieler, später Jugendtrainer, gefolgt von Krafttraining und Judo. Bei Judo war der Lohn immerhin der Braungurt. Ich habe es im Gegenzug geschafft, meinen Puls jahrzehntelang nicht über 130 zu bringen. Zumindest nicht durch eine Sportdisziplin.

Nun war guter Rat teuer. Wie sollten wir es bewerkstelligen, die unterschiedlichen Interessen und vor allem die von der Natur gewählten geschlechtsspezifischen körperlichen Voraussetzungen unter einen Hut zu bringen?
Ideen hatte ich schon, so ist es nicht. Tanzen wäre toll, am liebsten argentinischer Tango mit einer Rose im männlichen Mund. Das stelle ich mir nach wie vor schön vor, leidenschaftlich, wie gemacht für Mann und Frau, die sich nahestehen. Der Schuss Erotik dabei kann einem Paar nach Jahrzehnten des Zusammenlebens auch nicht schaden, ist also sicher nicht kontraproduktiv. Leider hatte ich vergessen abzuklären, ob mein Auserwählter gerne tanzt, als ich mit siebzehn in seine Arme sank und dort blieb. Mittlerweile, nach über fünfundvierzig Jahren, habe ich mich verschiedentlich davon überzeugen können, dass Tanzen nicht der Sport erster Wahl für uns ist.
Aber es musste doch noch was anderes geben. Als ich meinem Mann vorschlug, bei der Volkshochschule den Kurs »esoterischer Tüchertanz« zusammen zu belegen, bekam er Schnappatmung und fing an zu hyperventilieren. Er betonte, dass er dazu nicht einmal in einem Anflug geistiger Umnachtung bereit wäre. Beim genaueren Überlegen allerdings konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass wir beide in Hare Krishna Manier durch Raum und Zeit schweben. Geht möglicherweise nur mit einer ordentlichen Portion »Gras« im Hirn. Somit war klar, dass alles, was im weitesten Sinne in die Rubrik TANZEN gehörte, den Heldentod gestorben war. Das umfasste so ziemlich die ganze Bandbreite, was mir als »Mädchen« sehr viel Spaß machen würde. Rhythmische Sportgymnastik, Zumba, Stepp-Aerobic. Die Liste ist endlos.
Gemütliche altersgerechte Sportarten wie Schach und Angeln schieden wegen meines verkümmerten logischen Denkens und der Tierliebe aus. Mit Schwimmen stehe ich auf dem Kriegsfuß, weil ich eh schon mehr als genug Zeit mit Haare föhnen verbringe. Das Geläster meiner Familie, wenn ich im Schwimmbad darauf achte, dass die Haare nicht nass werden im Wasser, halten meine Nerven nicht allzu oft aus. Eine flotte Kurzhaarfrisur ist mir das allerdings nicht wert.
So warteten wir lange auf den Ruf des Schicksals und auf Erlösung. Unser trauriges Dasein, das wir hier fristeten, musste doch mal ein Ende finden. Bekanntlich hat die Trostlosigkeit einen Namen: Ortsrandlage, 200-Seelen-Dorf. Irgendwann erbarmte sich deshalb das Schicksal und es verfügte, dass meine bessere Hälfte ein Laufbuch geschenkt bekam. Schon nach kurzer Lektüre war mein Mann infiziert und rannte los. Mein Einwand, dass ich mir unter den günstigsten Voraussetzungen nicht vorstellen könne, länger als 1,5 Minuten am Stück zu rennen, beeindruckte ihn nicht. Nach dem langen Hin und Her habe er es nun satt. Das Laufen mache ihm Spaß, ich solle es probieren oder bleiben lassen und auf Einzelschicksale nehme er nun keine Rücksicht mehr. Da hatte ich den Salat. Mein Wunsch nach gemeinsamer Aktivität war größer als meine Verärgerung und ich fügte mich demütig dem Unabwendbaren.
 
Wir schlossen uns einer Laufgruppe an, wo es genug Grüppchen in verschiedenen Stärken gibt. Es wird zusammen gestartet und eine Stunde gelaufen. Je nach Fitness kommt man dabei sechs oder zwölf Kilometer weit. So hatten wir es tatsächlich fertiggebracht, zwar nicht gemeinsam Sport zu machen, aber wenigstens gleichzeitig. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass mein Mann zu dem eher schnellen Kopf der Gruppe gehört und ich mich unter den langsamen Hausfrauen am Ende befinde. Aber ist das nicht trotzdem besser, als daheim auf der Couch zu liegen? Dort liegt man ja zumeist mit einer Jogginghose. Das finde ich schon immer richtig paradox. Jogginghose ist doch ein perverser Name für ein Kleidungsstück, mit dem man meistens auf der Couch rumliegt.
Selbstverständlich machte sich die regelmäßige Bewegung bei mir Sportlegasthenikerin bemerkbar. Die erzielte Leistungssteigerung gipfelte in einem Halbmarathon und ein paar 10-Kilometer-Läufen. Wenn mir zuvor jemand prophezeit hätte, dass ich jemals anfange zu rennen und nicht nach 1,5 Minuten, sondern erst nach 2 Stunden und 15 Minuten wieder stehenbleibe, hätte ich außer einem mitleidigen Lächeln nichts für ihn übriggehabt. Ich hätte sogar in höchstem Maße um seine geistige Gesundheit Sorge getragen.
An meinen Mann komme ich natürlich im Leben nicht heran. Um die zwanzig Marathons und ein paar Ultramarathons sind seine stolze Bilanz. Seine Trophäen in Form von Medaillen hängen gebündelt an der Wand.
Neulich wollte unsere große Enkeltochter wissen, warum an dem einen Haken so viele hängen und an dem zweiten nur überschaubare fünf Stück. »Das sind Omas Medaillen«, war meine Antwort, »und die Oma ist darauf sehr stolz und wird bis an ihr Lebensende davon zehren.« Ich zehre seitdem und es bleibt mir auch nichts anderes übrig, weil ich mittlerweile wieder bei den Walkerinnen am Ende der Gruppe gelandet bin. Aber bekanntlich vergeht beim Sport der Schmerz, doch der Stolz bleibt für immer.                                                                    
Für meinen Gatten war das des Guten nicht genug. Irgendwann erweiterte er das Laufen auf Radfahren und Schwimmen und hatte somit mit Triathlon eine neue Herausforderung. Wenn er etwas macht, dann ist er gnadenlos, zu sich selbst und zu mir.
Mein Einwand »nur über meine Leiche« zu seiner Ankündigung, einen Langdistanz-Triathlon zu absolvieren, wurde geflissentlich ignoriert. Als Belohnung habe ich seitdem einen IRONMAN, einen Eisenmann, zuhause und ich bin stolz darauf. Ich versuche, ihn mit Leib und Seele zu unterstützen. Und das ist nicht einfach, wenn in Vorbereitungszeiten in der Woche an sechs Tagen trainiert werden muss. Da ist die ganze Freizeit, einschließlich der Essenszeiten, darauf abzustimmen. Mit dem Essen ist es tatsächlich schwierig. Entweder ist die geplante Nahrungsaufnahme zu kurz vor dem Sport und das Essen liegt dann wie ein Stein im Magen oder zu kurz nach dem Sport und man hat daher nicht gleich Appetit. Also Augen verdrehen und geduldig auf den richtigen Zeitpunkt warten, um den Hungerhaken zu füttern, damit er nicht vom Fleisch fällt. Von sportspezifischer Ernährung will ich hier gar nicht anfangen. Aber es ist doch immer gut, wenn hinter einem erfolgreichen Mann eine Frau steht, die ihn betreut und auch mal bremst. In jeder Beziehung sollte es einen Bremser geben und einen, der Gas gibt.

Selbst Sport im Fernsehen hat nun eine neue Dimension für mich. Bei einem Fußballspiel falle ich nach fünf Minuten vor Langeweile in Schockstarre. Aber mit Begeisterung schauen wir Marathonläufe und Triathlon-Events im TV. Bei den stundenlangen Übertragungen würde jeder Normalfühlende die Krise bekommen, einschlafen oder ausschalten. Bei uns ist Herzrasen vorprogrammiert und der Holztisch hat auch schon gelitten. In die Tischplatte wird nämlich beim Zieleinlauf vor Aufregung gebissen. Marathon und Triathlon sind die einzigen Sportarten, bei denen ich Regeln, Hintergrundwissen, Trainingspläne, Ernährungstipps usw. kenne. Zwar alles graue Theorie für mich, aber immerhin habe ich es kapiert. Das kann man vom Fußball etwa mit Abseits, Foul, Einwurf, Eckball etc. in Bezug auf mich absolut nicht behaupten. Einen Tipp zur Leistungssteigerung habe ich als Möchtegern-Expertin natürlich auch: Man wird richtig schnell, wenn eine unheimliche Person hinter einem läuft oder eine heiße Person vor einem.
 
Aber nichts ist so beständig wie der Wandel. Vielleicht wende ich mich irgendwann einer neuen Herausforderung zu. Der aktuelle Trend »Waldbaden« wird als entspannend und meditativ angepriesen. Das wäre doch was für ältere Semester. In absehbarer Zukunft bin ich altersentsprechend noch unattraktiver geworden als schon geschehen. Dann findet sich unter Umständen praktisch niemand mehr, der sich von mir gerne umarmen lassen würde. Waldbaden wäre eine annehmbare Lösung. Bäume haben da keine Chance, die können nicht davonrennen. Ich sehe mich glückselig dieselben schluchzend umarmen. Anschließend ein wohltuendes Blätterbad auf dem Waldboden und nichts kann einen erschüttern und man ist gestärkt für die Widrigkeiten des Lebens außerhalb des Waldes. Und vor allem: die Frisur sitzt auch danach.



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