Direkt zum Seiteninhalt

"Letzte Warnung!"

VERLAG RENATE BRANDES IN ALTENRIET
Veröffentlicht von Renate Brandes in Belletristik · Montag 22 Jul 2024
Tags: KlimawandelKurzgeschichteMartinBartholmeNaturschutz
Martin Bartholme

Am 28. Juli ist immer der WORLD NATURE CONSERVATION DAY – der Tag des Naturschutzes.


Martin Bartholme hat sich zu diesem Tag ein paar ganz besondere Gedanken gemacht und (s)eine Geschichte aufgeschrieben.

 

Eine letzte Warnung

Wie unendlich viele Nadelstiche, so fühlt es sich an. So fühle ich mich – seit langem! Ein Jucken und Brennen unter meiner Rinde, an meinen Ästen und Zweigen, hinauf bis in die Krone. Die Käfer fressen sich an meinem Leib satt, eine ganze Kolonie dieser nimmersatten Plagegeister. Und ich bin zu matt, um mich zu wehren. Keine Kraft mehr für diesen Kampf. Mein Harz ist längst versiegt; ich vertrockne in der ewigen Glut des Planeten. Wo bleiben nur die Jahreszeiten? Wo bleibt die Struktur, die mir Halt gibt? Die nötige Ruhe im Winter, das Sprießen und Erwachen im Frühling, das Hochgefühl des Überflusses im Sommer, die Samenabgabe für den Fortbestand im Herbst. Der ewige Kreislauf. Doch seit Jahren ist alles durchmischt, alles extrem. Dürren, Überschwemmungen, Brände, Frost, Tornados - das Wetter spielt verrückt, keine Chance zur Regeneration. So muss ich wohl gehen. Verspeist von tausend Insekten, verdurstet in der Hitze, verletzt, verblutet und beschädigt in den Stürmen. Doch bis mein letztes Blatt fällt, werde ich mein Haupt stolz in den Wind halten und euch meine Geschichte erzählen:
 
Seit 215 Jahren stehe ich hier auf diesem Hügel. 215 Ringe legen sich um mein Innerstes, eine halbe Ewigkeit. Erst als zartes Pflänzchen, dann als junger Spross, nun als kaputtes Wrack, schau(t)e ich in das Tal hinab; auf meine Brüder und Schwestern, auf Wiesen und Seen, auf die Siedlungen der Menschen. Ich habe so viel gesehen, so viel erlebt, ich könnte ein ganzes Buch darüber schreiben. Über die angenehme Kühle der Nacht, über das langsame, erquickende Abperlen der Regentropfen, das Wachsen frischer Triebe: Ein Gefühl stark und unbesiegbar zu sein. Aber auch über erfrorene Knospen an einem letzten Frühlingsmorgen, endlos verregnete Sommer oder unangenehm stechende Blitzeinschläge.

Im Laufe der Jahrhunderte änderte sich mein Ausblick. In der vorindustriellen Zeit lebten wir mit den Menschen in einer beinahe harmonischen Koexistenz, in einer friedlichen Symbiose von Geben und Nehmen. Mal fällten sie einen meiner Verwandten, um sich ein Heim zu schaffen oder um sich an uns zu wärmen, doch dann pflanzten sie auch wieder junge Setzlinge. Gingen auf die Jagd in unseren Schatten, ernährten sich von meinen Früchten. Und sie mochten uns als mystischen Ort, als Flecken der Ruhe und Besinnung. Kinder spielten über meinen Wurzeln, Verliebte gravierten Herzen in mein Äußeres. Und wir waren überall, bis zum Horizont ein einziges grünes Meer.
 
Manche sagen, die Schönheit läge in der Vergänglichkeit, da bin ich mir nicht sicher. Von mir aus hätte es ewig so weitergehen können. Tat es aber nicht! Denn diese Spezies bekam einfach nie genug. Musste sich stets vergrößern, musste sich vermehren, musste wachsen. Aus Weilern wurden Dörfer, aus Dörfer wurden Städte und immer mussten wir weichen. Wurden verdrängt aus dem Tal, von der Anhöhe, hinauf bis zum Gipfel, auf dem ich seit jeher stehe. Als Einsiedler, als letzter Mohikaner des einstigen Waldes. Die Feuer der Menschen brauchten immer neuen Nachschub, mussten gefüttert werden. Schlote mussten rauchen, der Feuerdrache wurde niemals satt. Er gebar das MenschenMammonMonster, welches mit seiner Gier und Streitsucht unseren Himmelskörper zerstörte. Von meinem Platz aus sah ich in all der Zeit so viel Leid. So viele Schlachten und Kriege. Massaker und Revolutionen. Wie kann man nur so unbarmherzig mit Seinesgleichen umgehen? Woher kommt all diese Missgunst, all dieser Hass?
 
Die rauchenden Öfen, die Abgase der Maschinen, die Emissionen ihrer Kamine verdunkelten den Himmel, verpesteten die Luft, versauerten den Regen und veränderten das Klima. Und wir wurden krank. Seit Jahren standen wir ständig unter Strom, wurden gestresst von Trockenheit und Wassermangel. An unserer Schwäche erfreuten sich die Käfer. Diese leidigen Biester waren die einzigen Profiteure unseres Niedergangs.

Das ewige Krabbeln und Kriechen unter meiner Haut macht mich ganz wahnsinnig. Wie gerne würde ich meine Rinde vom Stamm herunterreißen und mich stundenlang nur kratzen. Aber ich kann ihnen nicht böse sein, sind auch sie doch nur ein winziges Zahnrad im riesigen Weltengetriebe. Schaue ich heute hinab in den Kessel, blicke ich auf einen Friedhof. Blicke auf die Überreste meiner Brüder und Schwestern, unzählbar viele Stumpen, die ein trauriges Dasein fristen. Amputierte Relikte aus längst vergangenen Tagen. Die Einsamkeit frisst mich langsam auf. Kein Vogelgezwitscher ertönt mehr, kein Rauschen der Blätter, nur die ewige Ruhe der sich versteppenden Landschaft.

Leben ist Gemeinschaft: Kein Baum im Wald steht für sich allein! Verborgen vor den Blicken der Menschen waren die Wurzelwerke meiner Artgenossen und mir unter der Erde miteinander verbunden. Ein riesiges unterirdisches Netz aus Wurzel- und Pilzgeflechten, mit welchem wir kommunizierten. Auch über die Luft sendeten wir Duftstoffe aus und standen so in einem immerwährenden Kontakt zueinander. Nun fühle ich tief in der Erde nur noch totes Gerippe, die Luft riecht jetzt nach Rauch und Benzin, alles ist ruhig. Ich bin meiner stillen Monologe so überdrüssig, meiner stummen Schreie, auf die ich keine Antworten erhalte.
Zum Glück wird es bald auch mich treffen. Meine Lebenssäfte sind dabei, zu versiegen. Doch wenn der letzte Baum stirbt, stirbt auch der Mensch. Er, der sich gerne als Krone der Schöpfung sieht, schaufelt sein eigenes Grab. Dabei ist er doch abhängig von uns, in jeglicher Hinsicht. Aber ich empfinde keine Häme, keine Schadenfreude, nur Mitgefühl über so viel Dummheit. Bald fällt auch mein letztes Blatt, ich kann es spüren, es dorrt schon so lange vor sich hin. Die Verbindung zu mir wird schwächer, hängt an einem seidenen Faden. Eine letzte Träne, die ich einsam vergieße, um dann endlich zu vergehen. Jetzt schreibe ich das finale Kapitel, die abschließenden Zeilen meines Lebensbuches. Bald schließt es für immer. Möge es ein letzter, dringlicher Appell an die Menschen sein. Eine letzte Warnung!  

Anmerkung:
Nach der aktuellen Waldzustandserhebung (2023) ist nur noch jeder fünfte Baum in Deutschland gesund. Es wurde eine hohe Kronenverlichtung bei allen Baumarten festgestellt. Der Anteil des Baumbestandes mit einem deutlich sichtbarem Blatt- und Nadelverlust stieg von 40 auf 43 Prozent. Vor allem die langen Trockenphasen haben den Bäumen stark zugesetzt. Laut den Aufzeichnungen des Deutschen Wetterdienstes, war 2023 in unserem Land das wärmste Jahr seit Messbeginn (1881).

Die Wälder dieser Erde und das Weltklima sind eng miteinander verbunden. Sie stellen gewaltige Kohlenstoffspeicher dar, von den Tropenwäldern bis hin zu den großen Nadelwaldregionen in Nordamerika und Russland – aber auch unser deutscher Wald trägt einen wichtigen Teil dazu bei. Sterben die Wälder, so wird der in ihnen gespeicherte Kohlenstoff freigesetzt. Zudem setzen die Bäume, die auf ihre Kronen einstrahlende Sonnenenergie in Wasserdampf um, der eine kühlende Auswirkung auf die Atmosphäre hat. Die wichtige klimaregulierende und kühlende Aufgabe des Waldes geht verloren, da die zusammenhängenden Waldflächen eigentlich wie riesige Klimaanlagen funktionieren. Fallen sie aus, erhitzt sich die Erde mitsamt ihrer Atmosphäre weiter - eine stetige Abwärtsspirale. Der derzeitige, weltweite und rasante Waldverlust (vor allem in den Tropen und Subtropen) trägt somit maßgeblich zur Klimakatastrophe bei!
 
(Quellen Anmerkung: WWF: „Wälder sind Kohlestoffspeicher und Klimaanlagen“; Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: „Ergebnisse der Waldzustandserhebung 2023)
Fotocredits Kirsten Bartholme
 

Bücher von Martin Bartholme:




Zurück zum Seiteninhalt