Schreibwettbewerb: "Die letzte Heckenrose" von Regina Rothengast
Veröffentlicht von renate Brandes in Vermischtes · Mittwoch 14 Aug 2024
Tags: Schreibwettbewerb, Regina Rothengast, Finale, Klimawandel, Kurzgeschichte, Heckenrose
Tags: Schreibwettbewerb, Regina Rothengast, Finale, Klimawandel, Kurzgeschichte, Heckenrose
"MM"-Schreibwettbewerb "Erzähl mir was": "Die letzte Heckenrose" von Regina Rothengast
Der Mannheimer Morgen hat einen Schreibwettbewerb zum Thema „Hitzebeständig – Leben in Zeiten des Klimawandels“ ausgelobt. "Meine" Autorin Regina Rothengast ist im Finale!
Wenn euch diese Geschichte gefällt,
dann gebt bitte vom 16. bis 25. August in der Online-Abstimmung für diese
Geschichte eure Stimme ab! Hier ist ihre Geschichte:
Die
letzte Heckenrose
„Röschen, komm bitte in zehn Minuten rein.
Wir wollen essen!“ Die Stimme der Mutter klingt durch den Garten. Entrüstet
schaut das Kind in Richtung Haus. „Mama! Du sollst mich nicht Röschen nennen.
Ich heiße Rosemarie.“ Dann senkt es wieder den Kopf und widmet sich dem Kranz
aus Gänseblümchen in seinem Schoß. Ein Schmetterling fliegt an Rosemarie
vorbei. Schnell springt sie auf und läuft vor Freude laut jauchzend dem
farbenfrohen Insekt hinterher.
Es ist Juni, im Garten hinter dem Haus
ist es mit 25 Grad angenehm frühsommerlich warm. Die große Blumenwiese mit
ihrer reichen Artenvielfalt lockt eine Vielzahl an Bienen, Schwebfliegen,
Falter und Käfer an. Es ist eine faszinierende Welt im Kleinen, ein
ökologisches System, das seinen eigenen, gut funktionierenden Regeln
unterliegt. Mit flinken Händen pflückt das zehnjährige Mädchen einen Wiesenblumenstrauß
für die Mutter.
Dann nimmt Rosemarie ihre kleine
Gießkanne und wässert die Heckenrose, die in voller rosafarbener Blütenpracht
steht. Die Rose ist ihr ganzer Stolz. „Ein Röschen für unser Röschen“, haben
die Eltern verkündet, als sie ihr das Gewächs zum Geburtstag überreichten.
„Pass gut darauf auf. Du alleine bist für die Pflege verantwortlich.“ Das hat
sich das kleine Mädchen sehr zu Herzen genommen. Mit wachsender
Begeisterung versorgt es die Pflanze und
erfreut sich täglich an der Wildrose.
Nach dem Essen genießt die kleine
Familie den lichthellen Sommertag in der herrlichen, idyllischen Natur, ein
immerwährender Quell der Freude und Erholung.
„Oma Röschen, komm bitte rein. Wir
müssen bald los!“ Die Stimme ihrer Enkelin ist schrill und angstvoll. Rosemarie
hat sich mit ihrem Kosenamen abgefunden. Im Gegenteil, sie lächelt nun, wenn
sie ihn hört. Das erinnert sie an die Mutter, die sie zuerst so nannte. Die
alte Dame kann den Blick nicht von ihrer Heckenrose wenden. Die zarten Blüten
verströmen einen intensiven Duft und die unversehrte Rose lässt den desolaten
Zustand der Natur ringsum vergessen. Rosemarie lächelt schelmisch. Trotz der
seit langem herrschenden Wasserrationierung ist es ihr gelungen, ihre geliebte
Heckenrose am Leben zu erhalten, indem sie immer heimlich etwas von der ihnen
zugeteilten Wassermenge auf die Seite getan hat. Zierpflanzen zu gießen ist seit
Jahren strengstens verboten. Freilich ist es nicht mehr diese erste Pflanze,
das Geschenk der Eltern. Aber sie war immer darauf bedacht, eine Wildrose in
einem Blumenkübel zu haben. Die Rose ist für sie die letzte Verbindung zur
Vergangenheit, zu einer Sorglosigkeit, wie sie es nie mehr geben wird. Wenn die
Rose stirbt, würde auch sie sterben. Das zarte Pflänzchen Lebensfreude hingegen
ist schon lange tot.
Obwohl es erst kurz nach zehn Uhr ist,
zeigt das Thermometer bereits 36 Grad. Und es ist erst Juni. Bereits in den
Vorjahren war es im Juli und August nicht möglich gewesen, im Hochsommer
tagsüber das klimatisierte Haus zu verlassen. Schutz vor der glühenden Hitze
ist zum Überleben oberstes Gebot.
Rosemarie wird es schwindelig. Nicht nur
die erbarmungslosen Temperaturen machen ihr zu schaffen. Seit kurzer Zeit macht
sich ihr Herz mehr und mehr bemerkbar. Sie spürt nun mit 85 Jahren, wie ihre
Kräfte schwinden. Schnell setzt sie sich auf die Bank und schließt die Augen. In
Sekundenschnelle blitzen Bilder in ihrem Kopf auf. Sie sieht sich in den 1980er
Jahren als Zehnjährige mit den Eltern genau an derselben Stelle im heimischen
Garten im Süden Deutschlands. Ein warmes Gefühl der Geborgenheit überkommt sie.
Ihre Sehnsucht nach der Unbeschwertheit ihrer Kindheit ist so groß, dass es ihr
fast körperliche Schmerzen bereitet. Nicht minder groß ist Rosemaries
Hoffnungslosigkeit. Die Angst vor der Zukunft hält sie mit eiserner Faust umklammert.
Gleich würde man sie abholen. Sie, ihren
Sohn Leon, seine Frau Thea und die Enkelin Mia. Nordwärts soll es gehen, ihre
einzige Chance zum Überleben. Sie würden in das gelobte Nordterritorium
umsiedeln, nach Skandinavien. Längst kann man in weiter südlicheren Gefilden
überhaupt nicht mehr leben. Mit ihrer Flucht in kältere Gebiete oder dem
Rückzug in klimatisierte Riesenbunker versuchen die Menschen seit vielen
Jahren, den lebensfeindlichen Bedingungen zu entkommen.
Rosemaries Wut hat sich mittlerweile in
Bitterkeit verwandelt. Sie ist keine Wissenschaftlerin, aber ihr gesunder
Menschenverstand sagt ihr, dass spätestens in den 2020er Jahren ein Aufwachen
und Handeln hätte stattfinden müssen. Die Unfähigkeit der Politik hat zu der
trostlosen Situation beigetragen. Wie ein Krebsgeschwür fraß sich eine gefährliche
politische Ideologie durch alle Länder. Ignoranz und Verantwortungslosigkeit
haben dazu geführt, dass die Menschheit schon jetzt ihren letzten verzweifelten
Kampf führt. Wer hätte gedacht, dass der Klimawandel dermaßen rasant fortschreiten
würde? Warnungen wurden jahrelang in den Wind geschlagen. Zu spät! Der Ritt in
den Abgrund ist gestartet.
Rosemarie hört das geschäftige Treiben
ihrer Familie im Haus. Sie selbst ist ganz ruhig. In den schlaflosen Nächten
der letzten Wochen, in der die Angst vor der Zukunft sie in ihren Klauen
gehalten hatte, fasste sie einen Entschluss. Seit die alte Dame weiß, dass sie
und ihre Lieben vier der begehrten Karten ins Nordterritorium erhalten haben,
ist ihr Gedankenkarussell nicht mehr stillgestanden. Die Verteilung der Tickets
zur Fahrt in die kühlere Region ist nur unter einem Gesichtspunkt geregelt: Wer
zahlt, darf reisen. Kein anderes
Argument zählt, kein Alter, kein Beruf, keine Gebrechlichkeit, kein
Gesundheitszustand. Es ist ein mitleidloses und verachtenswertes
Auswahlverfahren.
„Mutter! Was machst du denn immer noch
da draußen? Komm endlich rein. Wir werden gleich abgeholt.“ Die resolute Stimme
ihres Sohnes reißt sie aus ihren Gedanken. Sie strafft ihre Schultern. Es gibt
kein Zurück. Rosemarie fühlt sich bereit für ihren letzten Kampf und der würde
nicht einfach werden. Schnell schaut sie zum Nachbarhaus. Eric steht am Fenster
und blickt gebannt zu ihr herüber. Sie nickt mit dem Kopf und winkt ihm zu. Er
tut es ihr erleichtert gleich. Ihre Abmachung steht. Rosemarie denkt an Clara
und das Baby. Ja, sie tut das Richtige. Die letzten Zweifel sind verflogen.
„Mutter!“ „Oma!“ Die Rufe aus dem Haus
werden zunehmend forscher. Rosemarie betritt ihr Heim, das ihr 85 Jahre lang
Geborgenheit gegeben hat. Leon, Thea und Mia stehen im Flur, neben sich die
gepackten Koffer. Auch ihrer. Aber den würde sie nicht brauchen. Jetzt muss sie
die Bombe platzen lassen.
„Ich komme nicht mit!“ Drei Augenpaare
ruhen in vollkommener Ungläubigkeit auf ihr. Ihr Sohn findet als erster die
Sprache wieder: „Was soll das? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?
Wir haben keine Zeit für deine Spinnereien. Gleich kommt der Bus.“
„Ich habe mein Ticket Eric gegeben. Er
wird an meiner Stelle mit euch fahren.“
Mia fängt an zu weinen und nimmt ihre
Oma in den Arm. Thea steht stumm daneben.
„Warum?“, schreit Leon zusehends panisch.
„Was haben wir alles auf uns genommen, um diese verfluchten Tickets zu erhalten!
Vom Mund haben wir sie uns abgespart. Es ist ein Neuanfang. Unsere einzige
Chance. Wir werden hier verrecken. Wer
weiß, wie heiß es noch werden wird? Es sind fast 40 Grad da draußen. Die
rechnen damit, dass es in diesem Jahr an die 50 Grad geben wird im Hochsommer.
50 Grad! Zudem ist das Wasser knapp wie nie zuvor.“
Er packt seine Mutter grob am Arm und
zwingt sie, ihm in die Augen zu schauen. Rosemarie hält trotzig seinem Blick
stand. „Mein Herz ist zu schwach für die anstrengende Reise. Gott schütze euch“,
flüstert sie.
Motorengeräusche! Der Militärbus naht, um
die menschliche Fracht zum Transport aufzunehmen. Rosemarie sieht Eric aus dem
Haus kommen und lächelt erleichtert. Bald würde er bei Clara und seinem
neugeborenen Sohn sein. Seine hochschwangere Frau konnte vor einem halben Jahr
die Reise in den Norden antreten. Für den jungen Vater hatte das Geld nicht
gereicht. In Rosemarie macht sich ein warmes Gefühl breit, wenn sie an die
junge Familie denkt, der sie zu dem Glück des Zusammenseins verhelfen kann,
auch wenn die Zukunft mehr als ungewiss ist.
Für sie und ihre Familie bleiben nur
noch wenige Minuten zum Abschiednehmen, dem Abschied für immer.
„Wir telefonieren jeden Tag!“, ruft Mia.
Ihr weinendes Gesicht hinter den Scheiben wird immer kleiner, bis der Bus ganz
verschwindet.
Rosemarie weiß, dass es ihr nur durch
diese Überrumpelung möglich war, ihren Plan in die Tat umzusetzen, so schwer
die Situation nun auch für alle zu ertragen ist. Nie und nimmer hätte ihre
Familie sie bewusst zurückgelassen.
Niemand ruft nach Rosemarie oder
Röschen. Es ist totenstill, als die alte Dame später im Garten sitzt. Kein
Summen, kein Brummen und kein Gezwitscher in der Luft. Die Erde ist trocken und
rissig, die Sträucher und Bäume kahl und vertrocknet. Als Rosemarie zu ihrer
Rose schaut, bemerkt sie, dass die Blüten, die sich vor kurzem im Frühsommer
erst gebildet haben, anfangen zu welken. Das letzte Heckenröschen stirbt.