Du warst Ronaldo, ich Zidane
Veröffentlicht von Renate Brandes in Belletristik · Mittwoch 19 Jun 2024
Tags: EM2024, Kurzgeschichte, Ronaldo, Zidane, Fussball, Martin, Bartholme
Tags: EM2024, Kurzgeschichte, Ronaldo, Zidane, Fussball, Martin, Bartholme
Du warst Ronaldo, ich Zidane
Wir mussten raus. Mussten uns bewegen. “Schmeißt die Stühle an die Wand, keinen Stillstand mehr.“ Den lieben langen Tag hatten wir gesessen. In der Schule, beim Mittagessen, für die Hausaufgaben. Ein Tagesablauf auf zwei Pobacken. Nun die letzte Matheaufgabe. Endlich war alles erledigt. Der Füller fand seinen Platz im Mäppchen. Das Heft und die Bücher wurden wieder korrekt in den Schulranzen einsortiert. „Ordnung ist das halbe Leben.“ Der Lieblingsspruch meiner Eltern. Eine Gründlichkeit, die mir fremd war. Zu der ich mich aber dennoch aufraffte, um nun endlich meine Freunde zu treffen. Um das Hirn nach den vielen Stunden einmal auf Stand-by zu schalten und um den Füßen die Macht über meine Handlungen übertragen zu können.
Ich schlüpfte in das Juventus Turin-Trikot, zog die alte Jogginghose über und schnürte meine Stollenschuhe. Bereits an der Türe schrie ich durch den Flur. „Mum, ich bin dann mal weg.“ Mehr Erklärungen brauchte es nicht. Unterwegs kaufte ich im Edeka um die Ecke noch einen Liter Eistee im Tetrapack und marschierte, an den Strebergärten vorbei, zum Bolzplatz. Die Sonne stand noch hoch oben am Firmament, es war angenehm warm. Hinter dem rechten Tor grasten in aller Seelenruhe zwei alte Gäule, Vögel pfiffen um die Wette und die Wiese war übersät von gelbem Löwenzahn. Absolute Vorstadtidylle. Bis jetzt.
Nach und nach trudelten sie ein. Erkan, Dennis, Sergei, Hanna, Matze und der kleine Eddy. Die ganze Truppe. Von da an war es vorbei mit der ländlichen Harmonie. Hier wurden Schlachten geschlagen, mit vollem Eifer im Gefecht. Dem Verlierer drohte Ungemach. Und neben der Schmach des Tages meist auch ein roter Hintern vom „Arschschießen“. „Tip Top“ bestimmte denjenigen, der beginnen durfte sein Team zu wählen. Der obere Fuß gewann. Dann rollte endlich das runde Leder.
Es wurde gepasst, getreten und gegrätscht. Nach wenigen Minuten sahen unsere Hosen aus wie die Anzüge von Grubenarbeitern. Zum Glück hatten wir alle unsere schäbigen, alten Beinkleider an, eine mütterliche Standpauke wäre sonst vorprogrammiert gewesen. Die Stollen der Kickschuhe fraßen sich tief in das Erdreich und pflügten die Wiese um. Wir spielten Doppelpass mit den Maulwurfshügeln und schoben die Fehlpässe auf die Unebenheiten des Platzes. Die Bälle flogen alle paar Minuten auf die Pferdekoppel. Hanna trat versehentlich in einen achtlos liegen gelassenen Haufen Hundescheiße. Trotzdem war das hier unser Camp Nou, unser heiliger Wembley-Acker.
Matze übte sich an einer Bananenflanke, ich erprobte einen Übersteiger. Es klappte nicht immer alles. Vieles war Stückwerk, mehr Schein als Sein. Aber stets waren wir mit vollem Fokus bei der Sache. Fixiert auf das Match, voller Freude für das Spiel. Unsere Sorgen und Ängste fanden in diesen Stunden keinen Raum.
Wir hatten alle Jerseys von großen Fußballnationen oder prominenten Klubs an. Die meisten waren gefälscht. Mitbringsel aus dem vergangenen Italien-Urlaub oder günstig erworben worden beim letzten Besuch des Tschechen-Marktes. Stolz wie Bolle trugen wir dieses Stück Plastik auf unserer Haut. Sobald der erste Schweiß floss, stanken alle bis zum Himmel. Die Schweißbakterien fühlten sich riechbar wohl, in dem billigen Stück Polyester. Dennis zog immer ein gelbes Brasilien-Trikot mit der Ziffer 9 auf dem Rücken über. Ich trug stets das schwarz/ weiß gestreifte Juve-Trikot mit der Nummer 21. Du warst Ronaldo, ich Zidane. Wir passten uns die Bälle zu bis die Sonne im Westen unterging. Erst als man die Hand vor den Augen nicht mehr sehen konnten, stolperten wir langsam und müde nach Hause.
Vor kurzem bin ich bei meinem Heimatbesuch nach langer Zeit wieder einmal an dem Bolzplatz vorbeigelaufen. Einem der prägendsten Orte meiner Kindheit. Unserem Feld der Träume. Der Platz lag verwaist vor mir. Kein lautes Geschrei, keine Kinderstimmen. Kein Ball flog durch die Luft, kein Torjubel verhallte im Herbstwind. Das Gras stand kniehoch und hatte offensichtlich schon lange keinen Rasenmäher mehr gesehen. Die Tornetze bestanden mehr aus Löchern als aus einem festen Geflecht - ihre Freizeit verbringen die Kinder von heute wohl mit anderen Dingen.
Ein wenig betrübt laufe ich nach Hause. In meinem alten Jugendzimmer finde ich, unten im Kleiderschrank, das mittlerweile viel zu kleine Juventus-Trikot. Ich halte es vor meine Brust und mache ein Selfie. Das Foto schicke ich an Dennis. „Hallo Ronaldo, liebe Grüße von deinem Zidane.“